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Handlungsfreiheit

Michael Seibel • unverzichtbare Empathie   (Last Update: 13.03.2019)

Die Freiheit zu handeln, Entscheidungen praktisch werden zu lassen, ist stark von der modernen Verdichtung der Arbeitsteilung betroffen. Im gängigen Sprachgebrauch der Schulphilosophie besagt Handlungsfreiheit negativ, dass jemand weder durch äußere noch durch innere Faktoren an einer beabsichtigten Handlung gehindert wird. Und positiv, dass jemand nach eigenem Belieben initiativ oder verändernd in den Ablauf der Dinge eingreift. Handlungen sind subjektinvariante Entitäten. Die Handlung, auf einen Baum zu klettern, ist als solche erkennbar, egal, wer da klettert, solange er nur raufkommt. Handlungen sind in der Handlungstheorie dadurch charakterisiert, dass sie Artefakte bilden und bestimmte Handlungsschemata aktualisieren. In der Antike wurde vor allem auf die Situation geschaut, in der gehandelt werden kann. In der Moderne zunächst vor allem auf die Handlungsabsicht. Heute herrscht allerdings ein funktionalistisches Handlungsverständnis vor. Bei einem Ballspiel etwa lassen sich das Material, der Ball, und das Werkzeug, die Hand, empirisch unterscheiden und lassen sich Handlungsabläufe erkennen, die sich wiederholen. Eine Handlungsabsicht dahinter wird unterstellt, um von einem Subjekt der Handlung sprechen zu können. Im Gegensatz zu Werkzeug und Material, die bei einer Handlung verwendet werden, ist sie nicht empirisch beobachtbar. In einem rein funktionalistischen Handlungsverständnis ist Freiheit kein Thema. Freie Handlungen haben dennoch nach juristischem und gängigem Verständnis nach wie vor verantwortliche Täter. Das entspricht im übrigen dem Selbstverständnis der Menschen in unserer Kultur, das reich an epistemischen, rationalitätsgeschichtlichen Voraussetzungen ist und durchaus Alternativen hätte.


Es ist keineswegs immer deutlich, was eine Wahl von einer Handlung und mithin Wahlfreiheit von Handlungsfreiheit unterscheidet. Was unterscheidet etwa beim Börsenhandel die Wahl von der Handlung? Der Klick, mit dem ein bestimmtes Wertpapier in einer bestimmten Quantität ausgewählt wird, ist genau der Klick, mit dem es gekauft wird, der also eine justitiable Tätigkeit darstellt. Man könnte auch von der Auswahl eines Wertpapiers zu Beobachtungszwecken reden, ohne es sofort zu kaufen, aber zur orientierenden Bezeichnung einer reinen Möglichkeit bedarf es keiner Wahlfreiheit. Voltaire hätte das eine leere Freiheit genannt. Die Antike hätte gesagt, es ist der rechte Augenblick, der die Handlung ausmacht. Wahlfreiheit kann z.B. dadurch eingeschränkt sein, dass für bestimmte Wertpapiere Kapitalverkehrsbeschränkungen bestehen, aber eine solche Beschränkung der Wahlfreiheit ist dann unmittelbar auch eine der Handlungsfreiheit.


Verdeutlichen wir uns den Bereich, in dem sich Wahlfreiheit und Handlungsfreiheit überhaupt unterscheiden lassen an einem Sportschützen, der mit Pfeil und Bogen eine Zielscheibe zu treffen versucht. Wahlfreiheit hat er im Hinblick auf seinen Schuss. Er wird die Situation prüfen und kurz einen Plan entwickeln, was ihm bei einiger Erfahrung sicher nicht schwer fällt. Nichts hindert ihn daran, Pfeil und Bogen wegzulegen und seine Absicht zu ändern. Es ist ein Sport, nicht mehr. Vielleicht muss er sich dringend auf eine Meisterschaft vorbereiten und fühlt sich unter Druck. Er kann dafür Gründe haben, er kann sich spontan entscheiden, abzubrechen oder nicht. Er geht seinem Sport draußen nach. Vielleicht hat es zu regnen begonnen. Wer weiß. Aber wenn er auf die Scheibe schießen möchte, hindert ihn nichts daran. Und auch nichts, das genau auf die Weise zu tun, wie er sich das vorher überlegt hat. Wir können der Situation sämtliche Bestimmungen von positiver und negativer Freiheit zusprechen. Nur seine Gründe zählen und nichts hindert ihn. Außerdem gibt es bis zu diesem Punkt keinen ernsthaften Konflikt zwischen Freiheit und Naturgesetzlichkeit. Jemand, der einen Wasserhahn öffnet, wird durch die kausale Wirkung dieser freien Handlung nicht unfrei, sondern verwirklicht eine Absicht. Der Schütze wird also seine ganze Konzentration und Übung darauf verwenden, dem Pfeil genau die Flugbahn zu geben, die ein Newton ihm als die richtige vorgerechnet hätte. Seine Freiheit wird versuchen, die Notwendigkeit zu wählen. Freiheit und Notwendigkeit sind sozusagen diesmal im Bund miteinander. Man wird den Schützen und seine Freiheit dafür bewundern, wenn der Schuss gelingt.


Die Funktionalisten haben dennoch recht damit zu sagen, dass die Freiheit des Schützen keine empirische Tatsache ist. Die Freiheit selbst lässt sich nicht sehen, so wie wir Pfeil und Bogen, den Arm, der den Bogen spannt, die Zielscheibe oder den Schützen sehen lässt bei seinem Versuch, ruhig zu atmen. Und sie lässt sich auch nicht erschließen, so wie sich das physikalische Gesetz, dem die Wurfparabel bei Luftwiderstand folgt, hat erschließen lassen. Wenn wir einfach nur zusehen, entdecken wir keine Freiheit. Wir wissen zum Beispiel nicht, ob jemand den Schützen gezwungen hat, seinen Schussversuch zu machen, so, wie Soldaten gezwungen sind, den Schützengraben nicht zu verlassen. Wir könnten, wären wir Biologen, Physiologen oder Physiker und mit Labors ausgestattet, das Gesehene noch sehr viel weiter in immer feinere Strukturen aufgliedern. Wir könnten biochemisch untersuchen, wie in den Zellen einer Muskelfaser die Muskelzelle funktioniert, die notwendig ist, um den Bogen zu spannen. Die Zelle, die wir so bei ihrem lebendigen Funktionieren betrachten, würde uns allerdings nichts mehr verraten über irgendeinen Zusammenhang mit der Freiheit des Schützen. Sie würde einen ganz anderen Bogen spannen, nämlich den Bogen hin zu den Naturgesetzen, zu den Ketten von Notwendigkeiten und zu den Inkompatibilisten, die zunächst die Unvereinbarkeit von Freiheit und Determinismus sowie die ontologische Alternativlosigkeit des Physikalismus feststellen, um dann den Begriff der Freiheit als buchstäblich grundlos zurückzuweisen. Im Mikrokosmos entdeckt Forschung Zufall und Notwendigkeit – und keine Freiheit.


Alles wird sogar noch etwas aussichtsloser für die Freiheit: Wenn man Handlung funktionalistisch in Handlungspartikel aufgegliedert hat oder sie naturalistisch in Mikrostrukturen zerlegt, kommt man danach, wenn man sich doch wieder eine Vorstellung des Ganzen machen will, nicht wieder zurück zur Freiheit. Die Suche nach einem Ganzen führt nicht automatisch zur Freiheit. Das liegt aber durchaus nicht daran, dass es kein naturalistisches Bild der Welt als eines Ganzen geben kann. Daran hat es seit den Vorsokratikern nie gemangelt. Aber Freiheit ist unzerlegbar. Wenn man eine freie Handlung auseinandernimmt wie ein kleiner Junge ein Spielzeugauto, bringt man die Freiheit nie wieder hinein. Bedeutende Köpfe haben das gleiche immer schon von den einfachsten Äußerungen des Lebens gesagt. Kein Forscher sei in der Lage, es wiederzuerschaffen, nachdem er es einmal zerlegt habe. An dieser Behauptung bestehen allerdings inzwischen erste ernsthafte Zweifel. Aber selbst das beweist nicht, dass sich Freiheit irgendwann wieder reimportieren lässt, sondern dass wir uns selbst von einem vitalistischen Freiheitsverständnis verabschieden müssen.


Aber nach einer anderen Seite ist das Schicksal der Freiheit interessanter. Der Schütze aus dem Beispiel sollte, falls er schießt, darauf achten, dass niemand der Flugbahn seines Pfeils zu nahe kommt. Er könnte ja jemanden verletzen. Er hätte sich zu verantworten und würde sich ethisch und juristisch schuldig machen. Sein freier Entschluss, im Garten auf eine Scheibe zu schießen, findet offenbar selbst dann in einem sozialen Raum statt, wenn aktuell niemand sonst anwesend ist.

Ohne Rücksicht auf die jeweilige Situation, einem untrennbaren Geflecht aus sozialen und naturalen Gegebenheiten, lässt sich letztlich keine einzige Handlung beurteilen. Jemanden mit einem Messer in den Bauch zu schneiden, kann je nach Rahmen ein Mordversuch oder eine medizinische Operation sein.


Wie stellt sich der Freiheitsgedanke im sozialen Raum dar? Grundsätzlich wird die Tatsache, dass Menschen soziale Wesen sind, die Freiheit so wenig beeinträchtigen wie der Gedanke unseres Schützen, dass er möglicherweise mit seinem Pfeil jemanden verletzen könnte. Rücksicht auf andere macht sowenig unfrei wie Rücksicht auf die Naturgesetze. Was wird also aus der Handlungsfreiheit in der Welt der Arbeitsteilung? Verflüchtigt sie sich da nicht ebenso wie in der funktionalistischen Sicht der Handlungstheorie? Ein Großteil der bewussten, planvollen Handlungen fast aller erwachsenen Menschen verwirklicht schon in der Antike und bis heute Ziele anderer Menschen und nicht die der Handelnden selbst einfach deshalb, weil wir in einer arbeitsteiligen Welt leben. Das war schon für Aristoteles der Anlass, poiesis und praxis zu unterscheiden. Das Berufsleben eines Anstreichers besteht nun einmal darin, anderer Leute Häuser zu streichen und nur ausnahmsweise sein eigenes. Entscheiden wir uns aus freien Stücken für die Arbeitsteilung? Auf den ersten Blick könnte man meinen, diese Frage sei genau so zu beantworten wie die, ob wir uns aus freien Stücken dafür entscheiden, die Geltung der Naturgesetze anzuerkennen. Ich sagte ja gerade, dass es freies Handeln nicht verhindert, in einer geordneten Welt zu leben, sondern dass genau das jedes Handeln, ob freies oder unfreies überhaupt erst ermöglicht. Da scheint es naheliegend zu sein, die Frage der Arbeitsteilung ebenso zu beantworten. Eine Welt ohne Arbeitsteilung hat es nie gegeben. Selbst kleinste Familiengruppen teilten immer schon ihre Arbeit. Menschen sind auf sich allein gestellt höchstens in relativ seltenen Ausnahmen und meist nur in kurzen Phasen ihres Erwachsenenlebens überhaupt allein lebensfähig. Selbst ein Eremit überlebt nur dann, wenn ihn die Bewohner seiner nächsten Umgebung überleben lassen. Generell ist also der Hinweis auf die Arbeitsteilung kein grundlegender Einwand gegen Handlungsfreiheit, sondern einfach ein Verweis auf den sozialen Charakter des Menschen, also ebenso auf eine Voraussetzung des Handelns überhaupt wie die Bindung an die Natur, die der naturalistisch gefasste Begriff der Notwendigkeit begrifflich festhält. Weder Naturnotwendigkeit noch Sozialität machen den Menschen per se unfrei.


Allerdings machen sie den Menschen auch nicht per se frei. Offensichtlich gilt ebenso: Nur weil Menschen soziale Naturwesen sind, können sie versklavt, ausgebeutet und unterdrückt werden.

Offenbar muss man sich vom Freiheitsgedanken her die Arbeitsteilung noch einmal genauer ansehen. Ich denke an einen jungen Menschen, der das Glück hat, nach langer Ausbildung bei bestem Gehalt in seinem Traumberuf gelandet zu sein, der darin sein ganzes Berufsleben hindurch tätig ist und der dann, wenn es Zeit ist, in den Ruhestand zu gehen, immer noch meint, er täte nichts lieber, als noch einige Jahre weiter zu arbeiten. Mein Zahnarzt war solch ein Mensch. Er hat sein Leben lang bis ziemlich tief in der Nacht in seinem zahntechnischen Labor gestanden, um anderer Leute Zahnprothesen den letzten Schliff zu geben. Er hat die Arbeit um ihrer selbst willen erledigt. Aus poiesis war praxis geworden. Er war, wie man sagt, ganz eins mit seiner Arbeit. Finanziell hätte er es in den letzten Jahren keineswegs mehr nötig gehabt, weiter berufstätig zu sein.

In mancher Hinsicht war seine Arbeit fremdbestimmt, denn es ging immer um die Gebisse anderer Leute. Er arbeitete zeit Lebens in den engen Grenzen seiner Approbation.


In einer extrem gegenteiligen Situation befände sich ein Sklave. Sklaverei trifft auch heute noch in den unterschiedlichsten Ausprägungen weltweit Millionen von Menschen. Kevin Bales beginnt sein Buch 'Die neue Sklaverei' mit folgendem Bericht eines jungen Mädchens:

„Ich wurde in Mali von meiner Großmutter aufgezogen. Als ich noch ein kleines Mädchen war, ist eine Frau gekommen, die meine Familie gekannt hat, und hat sie gefragt, ob sie mich mit nach Paris nehmen kann, damit ich mich dort um ihre Kinder kümmere. Sie hat meiner Großmutter erzählt, daß sie mich auf eine Schule schicken und daß ich Französisch lernen würde. Aber als ich nach Paris gekommen bin, hat sie mich nicht in die Schule geschickt. Den ganzen Tag über habe ich arbeiten müssen. In dem Haus, das ihnen gehört hat, habe ich die ganze Arbeit gemacht; ich habe geputzt, gekocht, mich um die Kinder gekümmert und das Baby gebadet und gefüttert. Jeden Tag habe ich schon vor 7 Uhr morgens angefangen; ungefähr um 11 Uhr abends war ich fertig; einen freien Tag habe ich nie gehabt. Meine Herrin hat gar nichts getan; sie hat lange geschlafen, und dann hat sie ferngesehen oder ist ausgegangen. Einmal habe ich zu ihr gesagt, daß ich in die Schule gehen möchte. Da hat sie mir zur Antwort gegeben, daß sie mich nicht nach Frankreich mitgenommen hat, um mich hier zur Schule zu schicken, sondern damit ich mich um ihre Kindern kümmere. So müde war ich, so abgearbeitet. Und ich hatte Probleme mit meinen Zähnen; manchmal ist meine Backe angeschwollen, und ich habe fürchterliche Schmerzen gehabt. Manchmal hatte ich Bauchschmerzen, aber ich mußte auch dann arbeiten, wenn ich krank war. Gelegentlich habe ich geweint, weil es so schrecklich weh getan hat, aber dann hat meine Herrin mich angeschrien. Geschlafen habe ich auf dem Fußboden im Zimmer von einem der Kinder; zu essen habe ich das bekommen, was sie übriggelassen haben. Aus dem Kühlschrank etwas zu essen holen, das durfte ich nicht, die Kinder schon. Wenn ich mir etwas zu essen genommen habe, hat sie mich geschlagen. Sie hat mich oft geschlagen. Geohrfeigt hat sie mich die ganze Zeit. Sie hat mich mit dem Besen und irgendwelchen Küchengegenständen geschlagen oder mich mit einem Elektrokabel ausgepeitscht. Manchmal habe ich geblutet; noch jetzt habe ich überall Narben. Einmal, das was 1992, war ich zu spät dran, um die Kinder von der Schule abzuholen; meine Herrin und ihr Mann waren schrecklich wütend, und sie haben mich geschlagen. Dann haben sie mich rausgeworfen, auf die Straße. Ich wußte nicht, wo ich hin sollte. Ich habe kein Wort verstanden, und so bin ich einfach durch die Straßen gelaufen. Nach einer Weile hat ihr Mann mich gesucht und zu ihrem Haus zurückgebracht. Sie haben mich nackt ausgezogen, mir die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, und dann haben sie mich mit einem Draht, den sie an einen Besenstiel gebunden hatten, ausgepeitscht. Beide habe sie mich gleichzeitig geschlagen. Ich habe stark geblutet und geschrien, aber sie haben nicht aufgehört, mich zu schlagen. Dann hat sie mir Chilipulver in die Wunden und in die Vagina gerieben. Da bin ich bewußtlos geworden. Irgendwann ist eines von den Kindern gekommen und hat mich losgebunden. Ich bin auf dem Boden gelegen, und da haben sie mich ein paar Tage lang liegen lassen. Die Schmerzen waren schrecklich, aber niemand hat meine Wunden versorgt. Als ich wieder aufstehen konnte, mußte ich gleich wieder zu arbeiten anfangen, aber von jetzt an haben sie mich immer in der Wohnung eingesperrt. Und mich weiterhin geschlagen.“1

Sie wird betrogen, isoliert, eingesperrt, unterversorgt, zu Tätigkeiten gezwungen, gefoltert, man verweigert ihr jede Hilfeleistung. Jede Empathie auf Seiten der Sklavenhalter wird unterdrückt oder fehlt komplett. Die Geschichte der Sklaverei ist voll von solchen und vielen anderen einschlägigen Zumutungen. Jeder einzelne dieser Sachverhalte würde ausreichen, um aus einem selbstbestimmten Zustand der Freiheit einen Zustand von Unfreiheit zu machen.

Was sagte Platons Lachesis-Geschichte noch gleich? Aus seinem individuellen Schicksal kann prinzipiell jeder etwas machen, der seine persönlichen Tugenden Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit entwickelt. Ist das irgendwie kompatibel mit dem Schicksal der Sklavin, in der sämtliche dieser Tugenden von der Gegenpartei aufgekündigt werden? Das Zahnarzt-Schicksal passt auch heute noch recht gut in die Lachesis-Geschichte, aber heute ist schwer zu verstehen, wie das Schicksal der Sklavin jemals hineingepasst haben soll. Wenn ich die Lachesis-Geschichte richtig verstehe, sieht Platon aber selbst in ihrer Lage einen Weg zum gelungenen Leben. Das ist schwer zu verstehen. Die Situation ist geprägt von radikaler Einseitigkeit. Der Tugend-Gedanke funktioniert wie der Freiheitsgedanke jedoch letztlich nur, wenn Tugend anerkannt wird, wenn von der Polis, von der Lebensgemeinschaft etwas zurückkommt. Von Seiten der Sklavenhalter kommt aber nichts zurück. Dass Freiheit grundlegend etwas Reziprokes ist, dass Freiheit auf Anerkennung angewiesen und nur als anerkannte wirklich ist, hat Hegel im Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft in der Phänomenologie des Geistes durchdekliniert.


Man kann jederzeit fragen, um wieviel die Situation der Sklavin hätte verbessert werden müssen, damit sie aufhörte, Sklavin zu sein. Hätte man sie bezahlen müssen? Wieviel? Hätte ein Taschengeld gereicht oder das Gehalt eines Facharbeiters? Man könnte all die Zumutungen einzeln durchgehen, die sie benennt und man hätte aus jeder eine Verhandlungssache machen können, um zu entdecken, wann das Mädchen den Bedingungen zugestimmt hätte. Diese Zustimmung, die Freiwilligkeit ist das gängigste moderne Freiheitskriterium. Es ist ein äußerst fragwürdiges Kriterium. Die Bedingungen, unter denen eine Näherin in einer Textilfabrik in Bangladesh einem Arbeitsvertrag zustimmt, sind völlig andere als die, unter denen ein leitender Beamter in Deutschland seinem Arbeitsvertrag zustimmt. 'Freiwilligkeit' ist in beiden Fällen völlig unterschiedlich ausgestattet. Dieses Gefälle verweist auf die Not hinter der Zustimmung.


Ein gravierender Unterschied zwischen der antiken Schicksalsidee und modernen Freiheitsvorstellungen besteht darin, dass der Freiheitsbegriff das Urteil der Individuen grundsätzlich höher gewichtet als jeden anderen Legitimationsgedanken religiöser oder sonstwie transindividueller Art, sei es als ein behauptetes Primat der Polis, des Staates, der Volksgemeinschaft oder der Gattung. Die Geistesgeschichte ist auch in der Moderne voll von totalitären Alternativen zum Freiheitsgedanken.



Empathie


Der Freiheitsbegriff als Wertmaß bleibt allerdings leer, wenn im Blick auf das Leben der anderen Menschen jede Empathie fehlt. Von Lesern, denen bei der Geschichte des Mädchens aus Mali jede Empfindung dafür fehlt, was da los ist und die zusätzliche Gründe brauchen, um die beschriebenen Zwangsverhältnisse abzulehnen, wird man nicht sagen können, dass sie einen angemessenen Freiheitsbegriff haben. Sklavenhalter zumal haben bestenfalls ein ausgeprägtes Anspruchsdenken, bei dem entsprechende Selbstlegitimationen noch nie weit waren. Der Kampf gegen die Sklaverei war immer auch ein Kampf gegen die Gründe, mit denen Sklaverei legitimiert wurde. Und er war insofern zweischneidig, als versucht wurde, die Gründe, die für die Sklaverei angeführt wurden, durch Gründe gegen die Sklaverei zu entkräften, zuvörderst durch das christliche Argument der Gottesebenbildlichkeit. Dabei hätte Empathie reichen müssen. Es hätte keiner weiteren Gründe bedurft. Das Argument 'dies ist ein Mensch und muss deshalb vor Gewalt geschützt werden' war immer schon aus mindestens zwei Gründen schwach. Erstens ist unklar, warum nur Menschen vor Gewalt geschützt werden sollten und zweitens hängt es davon ab, ob es in konkreten Situationen gefällt wird oder nicht. Es ist den Nazis bei Millionen von deutschen Juden gar nicht erst in den Sinn gekommen. Und es wird überall vergessen, wo systematisch Gewalt ausgeübt wird. Der Freiheitsgedanke verbietet, wenn er inhaltlich irgendetwas besagen soll, dass weitere Gründe eingefordert werden. Mitgefühl, Empathie bedarf keiner weiteren Herleitung und beruht nicht auf einer Idee. Mitgefühl ist andererseits aber auch nichts, womit Menschen von Natur aus ausgestattet wären wie mit Organen. Es ist kulturell und individuell hoch modifiziert. Die wenigsten Europäer haben Mitgefühl für Insekten, sehr viele aber für Pferde oder junge Katzen, manche haben keins für Menschen mit Behinderung, manche haben keins mit sich selbst. Es ist äußerst unterschiedlich, wann wessen Mitgefühl anfängt mitzufühlen und was es dann so alles mitfühlt. Offenbar lässt sich Mitgefühl an ideologische Bedingungen knüpfen und wird zu etwas, das Gruppen von Menschen anderen Lebewesen gewähren oder nicht. Dennoch scheint mir unabweisbar, dass der moderne, äußerst generelle Freiheitsbegriff, dass die Würde der Negation, ausgesprochen leer bleibt ohne ein Empfinden. Und mir scheint, dass das nicht erst für den modernen Freiheitsbegriff gilt, sondern etwa für die antiken Vorstellungen von den Tugenden ebenfalls. Auch deren Verankerung kann ich mir nicht als bloß angstbesetzte Forderung an gesellschaftlich lebende Menschen oder als fleischlose Idee vorstellen. Mitgefühl korrespondierte mit Achtung.


Es wäre falsch, in Empathie, im Mitgefühl, nichts als eine biologische Leistung, etwa von Spiegelneuronen zu sehen. Soweit bekannt weisen bestimmte Nervenzellen, die Spiegelneuronen, die gleichen Aktivierungsmuster auf, ob jemand die zielgerichteten Bewegungen eines anderen Menschen beobachtet, oder ob er selbst die gleichen Bewegungen macht und einem vergleichbaren Ziel folgt. Offenbar wird bereits auf zellulärer Ebene fremdes Handlungsgeschehen mit eigenem Handlungsgeschehen abgeglichen. An sich ist das nicht überraschend, wenn das gesamte psychische Geschehen biologisch fundiert ist. Es beweist zunächst erneut, dass Gehirnareale miteinander vernetzt sind, hier die, die für das Sehen zuständig sind mit denen, die für Bewegungen zuständig sind. Warum sollten Spiegelneuronen nicht ins elementare biologische Fundament unserer Fähigkeit gehören, Rückschlüsse auf die Handlungen anderer zu ziehen? Eine Frage, der Hirnforschung, nicht der Philosophie. Ich sehe keinen Grund, die Rolle des Spiegels in der sozialen Kommunikation zu bestreiten, nur erklärt das nicht einmal annähernd ein so komplexes und variantenreiches Phänomen wie das Mitgefühl. Soweit mir bekannt ist, ist bislang ungeklärt, ob sich die Aktivität von Spiegelneuronen nur auf zielgerichtete Bewegungen oder darüber hinaus auf Gefühlsäußerungen bezieht. Und selbst wenn sie das täte, würde Mitgefühl nicht zum biologischen Automatismus.


Handlungen, Handlungssequenzen, Lebensverläufe voller Praxis rangieren auf einer Range zwischen dem Musterzahnarzt und der Sklavin und sie gehen sicher auf der glücklichen Seite durchaus auch über den Musterzahnarzt noch hinaus. Das relativiert die Trennschärfe der Empathie als Grundlage eigener Urteile über Freiheit und Unfreiheit im Leben anderer Menschen erheblich. Man kann das Eheleben des Zahnarztes, der ständig Streit mit seiner Ehefrau bekommt, weil er nachts zu lange im Labor steht, nachvollziehbar finden oder nicht. Das diskursive Alltagsleben ist voll von ständigen Meinungsverschiedenheiten über Urteile in Sachen Freiheit. Und gerade als das ist es frei. Das meint Meinungsfreiheit mindestens. Nach der Seite des Glücks gibt es Tendenzen in Richtung unterschiedlicher Glückserwartungen wie in die Richtung von relativ einheitlichen Glücks- und Belohnungsvorstellungen in sozialen Gruppen und ganzen Kulturkreisen. Nach der Seite des Unglücks, der Seite des Sklavenmädchens einigt man sich über Grenzen, an denen Verhältnisse schlechterdings inakzeptabel werden, aber es gibt auch ständig wieder Gewaltlegitimationen. Immer wieder stellt sich die Frage, was als Übergriff auf einen anderen Menschen zu werten ist, vor dem der Staat Schutz bieten muss und was die Freiheiten sind, die der Staat garantieren muss. Wo solche Freiheiten eher formal verstanden werden wie im Ordoliberalismus und Empathie in der Argumentation kaum eine Rolle spielt, kann man meist davon ausgehen, dass die persönlichen Freiheitsgrundlagen bereits anderweitig gesichert erscheinen. Der Anspruch, dass Geldvermögen vom Staat geschützt werden, ist vor allem für die interessant, die Geldvermögen besitzen oder die meinen, Vermögen erwerben zu können und die von daher glauben, ihr Wohlbefinden in ihrer Lebenssituation soweit selbst steuern zu können, dass sie auf die Empathie anderer nicht eigens angewiesen sind. Empathie wird zum strategisch eingesetzten Mittel in Diskursen oder zum Baustein von Intimität.


Anmerkungen:

1 Kevin Bales, die neue Sklaverei, München 2001, S.7 f.



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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